Verliebt in Rotterdam

Mein Lieblingswerk

 

Auf der Suche nach meinem Lieblingswerk ging ich durch die Ausstellung Neue Schätze im MKdW. Von Max Liebermann bis Jochen Hein. Oft habe ich angehalten, denn viele Werke in dieser Ausstellung sind faszinierend. Zum einen ist da die Kochende See von Jochen Hein, die sich über einem aufzutürmen scheint und in der man, wenn man sie von ganz Nahem betrachtet, Farbtupfer unterschiedlichster Nuancen erkennen kann. Zum anderen sind Werke von Michael Ancher und Christian Krohg ausgestellt, die das oft tragische Schicksal der Fischer in Skagen so beeindruckend wiedergeben. Im nächsten Raum zogen unter anderem Hans Peter Feddersen und Max Liebermann meine Aufmerksamkeit auf sich. Feddersens grüne Wiesen mit Kühen im Werk Viehweide in der Friesischen Marsch gefallen mir. Max Liebermann beeindruckt mich vor allem mit dem Werk An der See - Strandbild mit seiner harmonischen Farbauswahl und dem groben Pinselduktus, der immer deutlicher erkennbar wird, je näher man an das Werk herantritt. Im letzten Raum finde ich das Werk Ahnung von Anja Jensen toll, weil es in mir das Bedürfnis weckt, der Frau in dem Bild zu folgen und mehr über sie und ihr Vorhaben zu erfahren.

 

Und trotzdem habe ich mich vor allem in das Werk Rotterdam von Eugène Boudin verliebt:

 

 

Die Aquarell- und Kohlezeichnung auf Büttenpapier ist 1878 entstanden und zeigt eine Ansicht des Rotterdamer Hafens. Im Hintergrund ist eine Häuserreihe in bunten Farben dargestellt, hinter der ein blauer Kirchturm links am Rand hervorragt. Die Häuser, die vor dem Kirchturm stehen, sind in Rottönen gehalten. Die restlichen Häuser der Reihe sind in Blau- und Grüntönen dargestellt. Am rechten Rand des Bildes lässt sich in der Ferne eine weitere Häuserreihe ausmachen, die jedoch nur schemenhaft zu erkennen ist. Der Himmel in Boudins Werk ist fast gänzlich mit Wolken verhangen, nur an manchen Stellen scheint blauer Himmel durch die Wolkendecke hindurch. Insgesamt dominieren Grau-, Blau- und Grüntöne das Werk, die jedoch durch Rot- und Brauntöne aufgelockert werden. Durch diese farbliche Auflockerung und den kleinen blauen Flächen im Himmel wirkt das Bild und die Stimmung in diesem nicht trüb oder gedrückt. Man scheint die Szenerie an einem normalen, leicht wolkenverhangenen Tag zu beobachten.

 

Vor den Häuserreihen im Hintergrund liegen zu kleinen Grüppchen arrangiert und lose verteilt Segelboote, deren Masten in die Höhe ragen. Die Mannschaft eines der Boote aus der Gruppe links scheint im Begriff zu sein, das Segel hissen und gleich ablegen zu wollen. Vielleicht ist das Boot auch gerade im Hafen angekommen. Weiter rechts fährt ein anderes Segelboot scheinbar aus dem Bild heraus. So wirkt die Szenerie nicht statisch, sondern in Bewegung. Auf einem kleinen Boot am linken Bildrand steht eine Person, die mit einer weiteren im Boot sitzenden Person kommuniziert. Im Gegensatz zu dem Segelboot auf der rechten Seite fährt dieses in die Szenerie des Werkes hinein. Durch die Interaktion der Personen auf dem Boot stellen sie ein bewegtes Element dar- ebenso wie das Wasser, das durch die Pinselstriche, mit denen die Schatten gemalt worden sind, in Bewegung gerät. Durch die Interaktion der Personen auf dem Boot wird ein Element der Bewegung eingeführt. Das Wasser, das durch die Pinselstriche, mit denen die Schatten gemalt worden sind, als in Bewegung dargestellt ist, greift dieses Element auf. Zum einen wirkt das Bild durch diese Ausschnitte unruhig und lebendig, zum anderen strahlen die im Hafen liegenden Boote eine gewisse Ruhe aus. Insgesamt finde ich als Betrachterin eine ausgewogene Komposition vor. Durch diese erzeugt der Maler auch den Eindruck einer Momentaufnahme.

 

Boudin gehörte zu den Freilichtmalern: Auf seinen Spaziergängen suchte er nach Motiven, die er direkt festhielt. So ist es wahrscheinlich, dass auch dieses Bild auf einem seiner Ausflüge entstanden ist, denn durch die bewegten Elemente, wie beispielsweise das Segel, das gehisst oder eingeholt wird, wirkt es, als würde man selbst im Hafen stehen und das rege Treiben mit eigenen Augen beobachten.

 

Der Künstler malte die Schatten farbig und nicht lediglich mit schwarzer Kohle. Dies beruht auf einer neuen Eigenart des Impressionismus. Diese wurde unter anderem von neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst. Man hatte herausgefunden, dass Schatten nicht rein schwarz, sondern farbig sind, wenn sie durch zwei Lichtquellen verursacht werden. In der Natur stellen die Sonne und das durch Teilchen in der Atmosphäre gestreute Licht zwei Lichtquellen dar. So ist beispielsweise der Schatten der Segelboote im mittleren Teil des Bildes in einem Grün-Grauton gehalten, und die Personen auf dem kleinen Boot werfen einen violetten(?) Schatten auf das Meer. Die Schattierungen der im Hafen vertäuten Boote, die im Bildhintergrund liegen, sind in einem Braunton gehalten. Die Schatten lassen ebenfalls darauf schließen, dass der Maler das Bild im Gegenlicht gemalt hat, da sie zum Betrachter hin ausgerichtet sind. Die farbige Darstellung der Schatten finde ich spannend, weil mir dies bei meinen bisherigen Museumsbesuchen noch nie bewusst aufgefallen war. Sie fügen sich aus meiner Sicht viel harmonischer in die Darstellung ein, als es schwarze Schatten vermögen. Je mehr ich mich nun mit dieser Papierarbeit auseinandergesetzt habe, desto mehr begeistert sie mich.

 

Was mir an dem Werk von Boudin am meisten gefällt, ist der skizzenhafte Charakter. Die Komposition scheint aus dem Moment heraus entstanden zu sein. Der lebendige Eindruck wird, wie ich finde, dadurch unterstützt, dass es keine ausschließliche Kohlezeichnung ist, sondern mittels Aquarellfarben die ganze Szenerie vielfarbiger wird.

 

 

Zeichnungen, wie die von Boudin, dürfen nur eine begrenzte Zeit ausgestellt werden. Danach müssen sie in einer Grafikkammer eingelagert werden, damit sich das Papier von der Lichteinstrahlung im Ausstellungsraum „erholen“ kann. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass das Papier vergilbt oder die Farbe ausbleicht. Aus diesem Grund wird das Werk Rotterdam gemeinsam mit den anderen Zeichnungen dieses Künstlers in der Ausstellung Neue Schätze. Von Max Liebermann bis Jochen Hein im MKdW seit September 2021 durch Reproduktionen ersetzt.

 

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Charlotte Wienstroth

Praktikantin im Museum Kunst der Westküste im August/September 2021

Studentin der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf