Edvard Munch Alpha und Omega

Nach einer harten Zechtour wurde der von psychischen Problemen geplagte Künstler Edvard Munch (1863–1944) 1908 mit einem Nervenzusammenbruch in eine Kopenhagener Klinik eingewiesen. Dort verwandelte er sein Krankenlager in ein Atelier und fertigte unter anderem die Mappe lithografische Alpha und Omega. Die Erzählung handelt von dem ersten Menschenpaar auf einer Insel. Ihr Paradies wird bald durch Omegas Liebe zu den anderen Inselbewohnern zerstört. Am Ende tötet Alpha seine Frau und wird selbst von ihren Nachfahren, die sie mit anderen Partnern gezeugt hat, ermordet. In seiner bitterböse Parabel verarbeitete Munch enttäuschende Liebesbeziehungen, rechnete aber auch mit der offenen Sexualmoral des Künstlerkreises der Kristiania-Bohème ab, indem persönliche Widersacher wie Gunnar Heiberg als lüsterne Tierwesen karikiert werden.

 

In der Ausstellung können 10 Motive sowie ein Inhaltsverzeichnis gezeigt werden, das Munch ebenfalls künstlerisch gestaltete; insgesamt umfasst die Serie 18 Motive. Munch wurde nahegelegt, sein Werk mit einem Text zu flankieren, um ihn es besser verständlich zu machen. Daraufhin entstand das folgende Prosagedicht, welches Munch auf Norwegisch und Französisch verfasste und das erstmals 1913 in einem Katalog zu seiner Grafik erschien.

 

1 (nicht ausgestellt)

Alpha und Omega waren die ersten Menschen auf der Insel.

Alpha lag schlafend im Gras und träumte.

Omega trat zu ihm und wurde bei seinem Anblick von Neugier erfüllt.

Sie brach einen Farnwedel ab und kitzelte ihn, woraufhin er erwachte.

 

2

Alpha liebte Omega.

Am Abend schmiegten sie sich aneinander und betrachteten die flackernde Säule,

die das Mondlicht auf das Meer warf, das die Insel umgab.

Edvard Munch, Mondaufgang
Edvard Munch
Mondaufgang

 

3

Sie gingen in den Wald, in dem sich zahlreiche Tiere und seltsame Pflanzen befanden.

Dort herrschte eine geheimnisvolle Dunkelheit, aber es gab auch viele bezaubernde Blumen.

Einmal wurde Omega von Furcht gepackt und warf sich jäh in Alphas Arme.

Die Insel kannte viele Tage voller Sonnenschein.

Edvard Munch, Der Wald
Edvard Munch
Der Wald

 

4

Als sich Omega eines Tages am Waldrand schlafen legte,

saß Alpha ein Stück entfernt im Schatten des Waldes.

Da stieg eine riesige Wolke vom Ozean auf,

verteilte sich über den ganzen Himmel und warf Schatten auf die Insel.

 

Alpha rief nach Omega, aber Omega hörte ihn nicht.

Da sah Alpha, dass Omega den Kopf einer Schlange in den Händen hielt

und ihr in die funkelnden Augen starrte.

Die Schlange war riesig,

sie war durch das Farnkraut gekrochen und hatte sich neben Omegas Körper gelegt.

Mit einem Mal fiel Regen vom Himmel, und Alpha und Omega wurden von Angst ergriffen.

Edvard Munch, Die Wolke
Edvard Munch
Die Wolke

 

5 (nicht ausgestellt)

Als Alpha der Schlange eines Tages im freien Gelände begegnet,

kämpft er mit ihr und tötet sie unter den Blicken Omegas,

die aus einiger Entfernung zuschaut.

 

6

Ein andermal begegnet sie dem Bären.

Omega erschaudert, während sie das weiche Fell des Bären am Körper spürt.

Als sie die Arme um ihn schlingt, versinken diese im Fell.

Omega begegnet einer Dichter-Hyäne mit zerschundenem Fell.

Ihre üblichen Liebesworte berühren diese nicht,

daraufhin flicht sie mit ihren zarten Händen einen Lorbeerkranz,

und während sie sich mit ihrem freundlichen Gesichtchen

dem missmutigen Kopf der Hyäne nähert, setzt sie dieser die Krone auf.

Edvard Munch, Der Bär
Edvard Munch
Der Bär

 

7 (nicht ausgestellt)

Der Tiger kommt mit seinem wilden Schopf

nah an das bezaubernde Köpfchen Omegas heran.

Omega hat keine Angst.

Sie legt ihre schmächtige Hand in das Maul des Tigers und liebkost seine Zähne.

 

8 (nicht ausgestellt)

Als der Tiger dem Bären begegnet, steigt diesem Omegas Duft in die Nase,

der von den blassen Blüten des Apfelbaums stammt,

die Omega über alles liebt und jeden Morgen bei Sonnenaufgang küsst.

Sie kämpfen gegeneinander und zerreißen sich.

Plötzlich tauschen die Figuren

wie auf dem Schachbrett – das noch nicht erfunden war – die Plätze.

Omega schmiegt sich an Alpha.

Neugierig und ohne zu verstehen, was hier vor sich geht,

recken die anderen Tiere die Köpfe und sehen dem Spiel zu.

 

9 (nicht ausgestellt)

Omegas Augen änderten sich ständig.

Für gewöhnlich waren sie von hellem Blau, sah sie jedoch ihre Liebhaber an,

wurden die Augen schwarz mi t karmesinrotem Schimmer.

Dann kam es vor, dass sie ihren Mund hinter einer Blume versteckte.

 

10 (nicht ausgestellt) 

Omegas Augen

 

11

Auch Omegas Herz änderte sich.

Einmal sah Alpha, wie sie am Ufer saß und einen Esel küsste, der auf ihrem Schoß ruhte.

Daraufhin holte Alpha den Strauß und lehnte sich an seinen Hals,

doch Omega blickte von ihrer Lieblingsbeschäftigung des Küssens nicht einmal auf.

Edvard Munch, Omega und das Reh
Edvard Munch
Omega und das Reh

 

12

Omega war es müde und leid, nicht alle Tiere der Insel besitzen zu können.

Tränenüberströmt setzte sie sich ins Gras.

Edvard Munch, Omega weint
Edvard Munch
Omega weint

 

13

Dann stand sie auf, irrte über die Insel und begegnete dem Schwein.

Sie sank auf die Knie und verbarg ihren Körper hinter dem langen schwarzen Haar.

Das Schwein und sie sahen sich an.

Edvard Munch, Omega und das Schwein
Edvard Munch
Omega und das Schwein

 

14

Doch Omega langweilte sich alsbald.

Eines Nachts, als die goldene Säule des Mondes auf dem Wasser zitterte, flüchtete sie

auf dem Rücken eines Hirschs über das Meer zu dem hellgrünen Land unter dem Mond.

Alpha blieb allein auf der Insel zurück.

Edvard Munch, Omegas Flucht
Edvard Munch
Omegas Flucht

 

15

Eines Tages kamen Omegas Kinder zu ihm.

Ein neues Geschlecht war auf der Insel herangewachsen,

die Kinder versammelten sich um Alpha, den sie ihren Vater nannten.

Es waren Schweinchen, kleine Schlangen, Äffchen,

kleine Raubtiere und weitere Mischlingskreaturen.

Alpha war verzweifelt.

Edvard Munch, Alphas Nachkommen
Edvard Munch
Alphas Nachkommen

 

16 (nicht ausgestellt)

Er rannte am Wasser entlang,

der Himmel und das Meer hatten eine rötliche Färbung.

Er hörte Schreie in der Luft und hielt sich die Ohren zu.

Himmel, Erde und Meer erzitterten, und er empfand große Angst.

 

17 (nicht ausgestellt)

Eines Tages brachte der Hirsch Omega zurück.

Alpha saß am Strand, sie kam auf ihn zu.

Alpha spürte, wie sein Blut in Wallung geriet.

Seine Muskeln schwollen an, und er schlug Omega so heftig, dass sie starb.

Als er sich über die Tote beugte und sie ansah, erschrak er über ihren Gesichtsausdruck.

Es war derselbe wie damals im Wald, als er sie am meisten geliebt hatte.

 

18

Noch während er sie betrachtete, wurde er von ihren Kindern und den Tieren der Insel

von hinten angegriffen und in Stücke gerissen.

Nun bevölkerte das neue Geschlecht die Insel.

Edvard Munch, Alphas Tod
Edvard Munch
Alphas Tod