Fide Struck Fragen an die Geschichte

Vollkommen abgetaucht

Es gab so viel zu sehen und noch viel mehr zu erzählen, dass uns die Kollegin schließlich daran erinnern musste, dass das Museum in drei Minuten schließen würde. Wir hatten die Zeit komplett vergessen, waren vollkommen in die Vergangenheit abgetaucht und in unzählige Geschichten, von denen wir immer neue entdeckten – schöne, überraschende und nachdenklich stimmende. Die Aufnahmen des Hamburger Amateurfotografen Fide Struck (1901–1985) entstanden in der Zeit des Überganges von der Weimarer Republik zum NS-Staat. Die Hintergründe ihrer Entstehung liegen vielfach noch im Dunkeln.   

 

Fide Struck, Hamburger Hafen, Fischauktion

Fide Struck, Schauerleute warten auf den Beginn der Auktion, um 1932

 

Gestochen scharf

„Das ist ja unglaublich, wie gestochen scharf diese Fotos sind!“ Das habe ich bei öffentlichen Führungen im MKdW immer wieder gehört. Bei unserem Rundgang durch die Ausstellung Schippermütz und feiner Zwirn – Fide Struck fotografiert Arbeitswelten an der Waterkant 1930−1933 kurz vor Weihnachten ist es mir selbst wieder aufgefallen. Die Gruppe von Hafenarbeitern zum Beispiel, die ganz vorne hängt: Noch in der letzten Reihe lassen sich die Mienen der Männer, die aus dem Dunkel der Fischauktionshalle auftauchen, gut erkennen. Man unterhält sich, es wird geraucht. Dem Typen vorne mit der Kippe im Mundwinkel ragt ein Kästchen aus der Brusttasche, das wohl der Aufbewahrung seines Tabaks dient. „Werschen-Weißenfelsen“ steht darauf und mit „Braunkohle AG“ müsste der Schriftzug unter dem Overall weitergehen. Denn so lautete der Name eines bis in das Jahr 1940 aktiven Montanunternehmens aus Halle an der Saale. Das sind so kleine Entdeckungen, die man vor Strucks Fotos allenthalben machen kann. Vielleicht war der junge Mann vorher Kumpel in einer Zeche und kam dann an die Waterkant. Jetzt ist er Schauermann (von niederländisch „sjouwer“ = „hart arbeiten“) in Altona – so nannte man die Hafenarbeiter, die für das Löschen und Laden der Schiffe zuständig waren. Und darauf warten die Männer jetzt, dass es endlich losgeht. Sie wirken lässig, wollen bestimmt auch lässig wirken und grinsen vielleicht ein bisschen mehr als sonst – es kam schließlich nicht jeden Tag vor, dass man fotografiert wurde.

 

Arbeit, Kunst und Reportage

Die Schauermänner in der Fischauktionshalle haben sich in Pose gerückt. Fide Struck – Anfang 30, von Hauptberuf Buchhalter in Berlin, seit Sommer 1932 arbeitslos – hat den Kontakt, aber auch die eher unbeobachteten Momente gesucht: Er hielt den Zollbeamten fest, der das schwankende, mit frischen Fischen beladene Schiff betritt, fotografierte die Hafenarbeiter beim Abfüllen der Aale, Heringe oder Schollen, dann die aufgereihten Fischkisten in der menschenleeren Halle. Als Höhepunkt der Reportage sehen wir den Auktionator mit erhobenem Haupt und emporgerecktem Stöckchen, er schaut schräg an uns vorbei. Er wird umringt von all den Händlern und Gastronomen, dazwischen stehen wieder Hafenarbeiter, jetzt als Zuschauer. Die Aufnahme ist erfüllt von knisternder Spannung – der Zuschlag wird erteilt. Fide Struck war ein wunderbarer Erzähler.

 

Manchmal schlägt sein Interesse am fotografischen Experiment durch, dann wird es inmitten des Treibens, all den Menschen und Gesichtern plötzlich sehr sachlich und formal streng. Das Fotografieren hat Struck als junger Mensch in der Künstler- und Handwerkersiedlung Gildenhall bei Neuruppin gelernt, eine Art früher deutscher Kommune. Da lebte und liebte er – vor allem die Kommunistin Else Großmann, das ist noch so eine Geschichte – und lernte: bei Curt Warnke, Lichtbildner, über den man immer noch wenig weiß. Struck wurde von einem progressiven Umfeld geprägt und die Tendenzen des Neuen Sehens, der Avantgardefotografie der 1920er- und 1930er-Jahre, klingen auch in späteren Jahren in seiner Bildsprache an.

 

Fide Struck, Hafen Hamburg, Auktion 

Fide Struck, Auktionator mit Stöckchen, mit dem der Zuschlag erfolgt, um 1932

 

Fide Struck, Hamburg Altona, Fischkisten

Fide Struck, Fischkisten, jede enthält 50 Kilogram, um 1932

 

Plattenränder

Meistens war er mit einer Plattenkamera unterwegs. Die Motive, die Fide Struck Anfang der 1930er-Jahre vom Fisch- oder dem Gemüsemarkt, der Räucherei oder Werft fotografisch eingefangen hat, wurden nicht auf Zelluloid, sondern auf Glas gebannt. Wenn heute viele dieser Bilder seltsam weiche, wellige Ränder aufweisen, ist das der lichtempfindliche Film, der sich teilweise von den Platten gelöst hat. Dennoch ist das Verfahren ziemlich robust: Auch nach rund 90 Jahren lassen sich von den Glasnegativen qualitativ hochwertige und eben auch sehr große Abzüge gewinnen – ein Glück für die Ausstellung! Zuvor mussten diese eingescannt und bearbeitet werden, wo dies Not tat. Immerhin war die Aufbewahrung der Fotoplatten unter konservatorischen Gesichtspunkten die längste Zeit nicht gerade optimal: Auf den Koffer, in dem sie verstaut waren, kommen wir noch zu sprechen. Elke Schneider, Fotografin am Altonaer Museum, hat sich dieser langwierigen, komplexen Aufgabe angenommen. Verschmutzungen, kleine Risse oder Ausbrüche im Glas – die Arbeit mit dem alten Bildmaterial erforderte viel Fingerspitzengefühl, Geduld und auch Entscheidungsfreude. Denn ob der Sprung links in der Ecke oder der Fleck oben rechts den historischen Charakter eines Bildes unterstreicht oder einfach nur stört, ist Abwägungssache.

 

In den meisten Fällen gewinnt die Geschichte – wir dürfen und sollen den Fotos ansehen, dass sie alt sind und eine bewegte Vergangenheit haben.

 

Plattenkamera und Rollfilmkamera, 1920er/1930er-Jahre

Plattenkamera (links) und Rollfilmkamera (rechts), 1920er/1930er-Jahre, Leihgabe Ane Ingwersen, Wyk, Ausstellungsansicht MKdW, Foto: Lukas Spörl

 

Spurensuche

1942 verstaute Fide Struck seine Negative in einem Koffer und schuf die Voraussetzung dafür, dass sie die Nachwelt erreichten. Durch die Wirren des Krieges, unbeschadet von Bombeneinschlägen sowie diversen Umzügen ging der Koffer 2005 in die Hände seines jüngsten Sohnes Thomas über. Struck Junior (geb. 1943) ignorierte die Angelegenheit lange, er ahnte wohl, wie sehr sie ihn mitreißen würde. Erst 2015 öffnete er den Koffer und gab sich der Aufarbeitung seiner Geschichte ganz hin. Die Ausstellung am Museum Kunst der Westküste ist nach einer ersten Schau am Altonaer Museum im Coronajahr 2020 die zweite Präsentation des fotografischen Werkes von Fide Struck.

 

Überrumpelt von der Geschichte

Noch während der Ausstellungsvorbereitungen stellte sich heraus, dass Strucks Fotoreportagen im Oktober 1933 teilweise in der Zeitschrift „Arbeit in Bild und Zeit“ (ABZ) abgedruckt wurden. Ja, da waren die Nazis bereits an der Macht. Wie konnte das sein? In Strucks Fotos waren keine NS-Symbole zu sehen und nach allem, was wir über ihn wussten (und wissen), stand er linken Ideen nahe. Und überhaupt: Die Arbeiterfotografie war doch eine Idee der Linken – Revolution von unten! Umkehrung der Besitzverhältnisse! Und die Arbeiterschicht, die das wuppen sollte, sollte in der Presse sichtbar werden. Ich fühlte mich überrumpelt.

 

Aber wie dicht die Extreme doch beieinanderliegen. Wir fanden heraus, dass sich die „ABZ“ als Nachfolgerin der „AIZ“, der linken „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“, ausgab. Die Zeitschrift hatte Anfang der 1930er-Jahre zu den meistgelesenen Blättern der Weimarer Republik gehört: Fortsetzungsromane, praktische Tipps für den Haushalt, motivierende Worte für die Arbeiterschaft. Im Zentrum aber standen die Fotoreportagen, welche dem kommunistischen Grundgedanken gemäß international ausgerichtet waren und daher gerne auch wirtschaftliche Erfolge in anderen sozialistischen Ländern oder die kapitalistische Unterdrückung in den Kolonialstaaten in den Fokus rückten. Die AIZ war streitbar, laut – und sie war künstlerisch anspruchsvoll: Fotografien wurden zahlreich und in kühnen Perspektiven eingesetzt. Wir können uns vorstellen, dass sich Fide Struck davon inspirieren ließ und selbst versuchte, dort zu veröffentlichen.

 

Mit dem Ende der Pressefreiheit in NS-Deutschland emigrierte die Redaktion der AIZ nach Prag. Doch daheim war das Blatt offenbar „too big to fail“ und die Selbstsicherheit der Nazis noch brüchig. Mithilfe einer getarnten „Nachfolge“ wollte man der KPD nahestehende Arbeiter und Arbeiterinnen diskret und unterschwellig mit nationalsozialistischen Anliegen vertraut machen. Auf den ersten Blick ähnelte die „ABZ“ der „AIZ“ zum Verwechseln, das Konzept ging trotzdem nicht auf. Bereits im November 1933 wurde die Zeitschrift eingestellt, im selben Monat erfolgte auch die NS-Machtkonsolidierung durch die Reichstagswahl aufgrund der Einheitsliste. Das Unheil nahm seinen Lauf.

 

Mittel zum Zweck

Wenn ich die Männer und Frauen betrachte, die den Fotografen anlächeln – die uns anlächeln und damit eine Brücke schlagen in die Gegenwart, fällt es mir schwer, diesen Bezug herzustellen und erst recht, ihn zu akzeptieren. Wie sahen die Netzwerke und Distributionswege journalistischer Fotos damals aus? Wie genau sind Strucks Fotos in die „ABZ“ gekommen? Vieles wird wohl im Dunkeln bleiben oder im Graubereich.

 

Halten wir uns so lange an die Bilder. Fide Struck zeigt keine Helden der Arbeit, da gibt es andere Bilder. Er zeigt aber auch keine Armut, prekäre Verhältnisse thematisieren seine Fotos tatsächlich nur am Rande. Struck macht keine Propaganda in keine Richtung. In einer Zeit der politischen Extreme geht ihm selbst das Radikale ab, das macht seine Fotos so gut, so nahbar – und so anschlussfähig. Rund um seine Aufnahmen vom Fischmarkt und der Fischverarbeitung kann die „ABZ“ so eine deutsche Wirtschaft anpreisen, die endlich wieder Fahrt aufnähme. Der lebhafte Charakter von Fide Strucks Fotos, ihre herausragende erzählerische Qualität und der empathische Blick des Fotografen ließen sich durch das eindimensionale Narrativ keineswegs erschöpfen, es ist, als führten sie ein pulsierendes Eigenleben. Dennoch waren sie Mittel zum Zweck. Leider.

 

Fide Struck, Fischauktion: In der Mitte links der Schreiber im hellen Mantel mit Protokollheft, rechts von ihm der Auktionator im dunkeln Anzug, zwischen beiden eine Frau mit Blick in die Kamera, Detail, um 1932

 

Fide Struck, Hamburg, Fischverarbeitung, Verkäuferinnen und Kunden am Tresen, um 1932

Fide Struck, Fischverarbeitung, Verkäuferinnen und Kundschaft am Tresen, um 1932

 

Die Auswertung des fotografischen Werkes von Fide Struck dauert an.

 

 

Dr. Pia Littmann, Kuratorin der Ausstellung Schippermütz und feiner Zwirn – Fide Struck fotografiert Arbeitswelten an der Waterkant 1930−1933

 

 

Alle Werkabbildungen in diesem Beitrag:

© bpk-Bildagentur – Fide Struck (Slg. Thomas Struck)

 

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